Archivum Honkai: Star Rail

(Teil 1)

...

Bitte erhöre mich, Gebieter des Herrscherbogens.

Yufei fand mich immer kindisch und hat mich ausgelacht, weil ich dir in meinem Tagebuch schreibe. Aber das ist eine alte Gewohnheit seit meiner Kindheit. Außerdem glaube ich wirklich, dass du das hier lesen kannst.

Deine Augen konnten schon immer alles sehen, was du sehen wolltest. Jemand wie ich hätte nicht geboren werden sollen, doch jetzt lebe ich ein wohlhabendes Leben und habe Freunde wie Yufei an meiner Seite. Ich danke dir für deinen Segen, und zwar jeden Tag und in jedem einzelnen Augenblick.

Deshalb hoffe ich, dass alles, was ich in letzter Zeit getan habe, keine Beleidigung deiner beispiellosen Autorität darstellt ... Ich bin nicht unzufrieden mit der Welt von Xianzhou, die du bewachst und beschützt. Ich wünsche mir nur, die echte Welt und ihre Farben zu sehen.

Als ich als Kind das Lyzeum besuchte und meine Mitschüler mich schikanierten, weil ich nicht sehen konnte, war ich stets der festen Überzeugung, mein Leiden sei eine Prüfung, mit der mich der Gebieter des Herrscherbogens auf die Probe stellt. Diese Überzeugung begleitete mich auch in späteren Jahren, als ich die Akademie besuchte und mich mehr als andere anstrengen musste, um das Studium zu meistern.

Als ob du mich für meine Hartnäckigkeit belohnen wolltest, hast du mir Yufei als Freundin geschickt. Als wir sieben Jahre alt waren, hat sie die bösartigen Mitschüler fortgejagt, die mich schikanierten, und seitdem ist sie meine beste Freundin.

Yufei beschützte mich vor den Fieslingen und half mir, im Studium voranzukommen. In den Ferien nahm sie mich mit zu den atemberaubenden Orten in den verschiedenen Lebensraumhöhlen und beschrieb mir sehr anschaulich deren Schönheit. Ihre Stimme ist so angenehm und klingt, als würde ein kalter Bach meine Fingerspitzen streicheln.

Eigentlich sollte mir mein Leben gar keinen Grund bieten, unzufrieden zu sein.

Aber ... wir Menschen sind visuelle Wesen und nehmen die Welt durch Licht und Farben wahr. Ich weiß einfach nicht, was Yufei meint, wenn sie sagt: „Die Abenddämmerung färbte den Himmel am Waldrand flammend rot.“ Genau genommen weiß ich nicht einmal, wie Yufei aussieht. Ich kann sie zwar anfassen, ich kann sie mir vorstellen, aber das reicht nicht aus, um eine klare Vorstellung zu erlangen.

Deshalb habe ich beschlossen, zusammen mit Yufei einen Weg zu finden, mein Augenlicht wiederherzustellen.

Durch den Segen des Herrscherbogens bin ich zur besten Alchemistin der Alchemiekommission geworden, und Yufei ist die beste Heilerin. Vielleicht können wir tatsächlich einen Weg finden, die Unvollständigen von ihrer ewigen Qual zu befreien.

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Yufei und ich haben in letzter Zeit viele Ansätze ausprobiert, aber keiner davon hat wirklich funktioniert.

Zunächst haben wir versucht, nichtinvasive Augenprothesen zu entwickeln. Auf diese Weise funktioniert nämlich auch mein mechanischer Arm, den ich genauso gut benutzen kann wie einen echten Arm.

Theoretisch können diese nichtinvasiven Methoden Unvollständigen mit Sehbehinderungen helfen. Bei Personen wie mir, bei denen der Sehnerv nicht richtig entwickelt ist, können nichtinvasive Methoden jedoch nur wenig ausrichten.

Zweitens wollten wir mein Sehvermögen anhand der Prinzipien von Schmetterlingsimmersiona wiederherstellen. Schmetterlingsimmersiona nutzt foxianische Pheromone, um steuerbare Illusionen zu erzeugen. Wir wollten herausfinden, ob wir dadurch das Auge als Rezeptor für visuelle Signale umgehen und Bilder direkt an das Gehirn senden können.

Die Ergebnisse zeigten, dass diese Strategie praktikabel war. Allerdings konnten diese Signale keine aussagekräftigen Bilder in meinem Gehirn erzeugen. Ich konnte zwar zum ersten Mal Farben und Formen „sehen“, aber ich konnte nicht genau sagen, was „rot“ und was „ein Kreis“ ist.

Wir vermuten, dass es daran liegt, dass das Schmetterlingsimmersiona die Sinne des Erlebenden braucht, um Bilder zu erzeugen. Deshalb waren die foxianischen Pheromone bei Sinnesreizen, die ich noch nie erlebt habe, machtlos.

Wie seltsam. Ich habe so viele Farben gesehen, aber ich vermisse dieses Gefühl nicht wirklich.

Als Drittes versuchten wir, einen sensorischen Ausgleich mit anderen Sinnen zu schaffen. Das war Yufeis Idee, die das Konzept der nichtinvasiven Augenprothese weiterdachte: Durch die Umwandlung von visuellen Signalen in akustische, taktile, gustatorische oder olfaktorische Reize könnten diese anderen Sinnesorgane eine ganz neue Art des „Sehens“ schaffen.

Wir haben einen Prototyp entwickelt, wobei die größte Herausforderung die Ausmaße des Gerätes waren. Alle externen Sensoren zusammengenommen sind schwerer als drei Menschen zusammen. Schon das Tragen der Sensoren war mühsam, ganz zu schweigen von den Testläufen.

Trotzdem haben wir viele Tests durchgeführt. Unsere Ergebnisse zeigen aber, dass dieses Gerät viel besser für kurzlebige Spezies geeignet ist. Ihre Gehirne sind plastischer, wodurch ein sensorischer Ausgleich eine Synästhesie auslösen kann, bei der ein Sinnesorgan ein anderes aktiviert. Wenn sie dieses Gerät über einen längeren Zeitraum nutzen, können sie Farben, Formen und Entfernungen realistisch „schmecken“, „hören“ oder „riechen“.

Bei langlebigen Wesen mit geringer Neuroplastizität (wie mir) können diese Sinnesorgane jedoch nicht zusammengeführt werden, um eine vollkommen neue Wahrnehmung zu schaffen. Zwar erkenne ich jetzt, dass das Testobjekt blau ist, wenn ich Chilischoten schmecke, und wenn ich danach einen kühlen Geruch wahrnehme, dann weiß ich, dass es die Form eines Kegels hat. Dennoch habe ich das alles immer noch nicht „gesehen“, und die Bedeutung von „blau“ verstehe ich auch nicht ...

Und auch wenn dieses Hilfsmittel bei kurzlebigen Spezies viel besser funktioniert, können die meisten ihrer körperlichen Probleme durch invasive Prothesen gelöst werden. Sie brauchen so ein kompliziertes Gerät also gar nicht.

Diese Experimente haben Yufei und mich sehr viel Zeit und Mühe gekostet, dennoch haben wir fast keine brauchbaren Ergebnisse erzielt. Zudem ist nicht einmal sicher, ob diese Experimente für andere Forscher in Zukunft nützlich sein werden.

Ich fühle mich niedergeschlagen und hilflos, und es kommt mir vor, als hätte ich Yufei enttäuscht.

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Ich habe mich mit Professor Egan von der Intelligenzia-Gilde in Verbindung gesetzt. Er schlug eine ziemlich ausgefallene Lösung vor, die er „eliminative Materialismustherapie“ nannte.

Der eliminative Materialismus ist eine alte philosophische Idee, die besagt, dass alle menschlichen Emotionen durch Steroide und elektrische Signale im Körper entstehen. Professor Egan glaubt, dass wir, wenn wir die Wurzel des Leidens der Unvollständigen nicht beseitigen können, das Leiden selbst beseitigen müssen.

Solange wir also mit einer Pumpe regelmäßig bestimmte Medikamente in den Körper injizieren, können wir die Person dazu bringen, sich nicht um ihre körperlichen Probleme zu kümmern. Das heißt, ich werde keine Lust mehr haben, die Welt zu sehen, und ich werde auch nicht mehr traurig darüber sein, dass ich es nicht kann.

Es klingt zwar ziemlich absurd, aber es scheint eine praktikable Lösung zu sein.

Die Versuchsergebnisse zeigen jedoch, dass diese Lösung für langlebige Spezies ebenfalls nicht geeignet ist.

Langlebige Spezies besitzen einen streng regulierten Hormonhaushalt, und jede Außeneinwirkung auf dieses System würde eine gewaltige Gegenreaktion auslösen.

Ich erlebte etwa zwei Stunden lang unbekümmerte Freiheit, bevor ich fast an einem Zytokinsturm gestorben bin.

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Ich habe viele Experimente durchgeführt, jedoch ohne jeglichen Erfolg. Ich fühle mich entmutigt.

Aber ich will sehen, wie Yufei aussieht – und sei es nur ein einziges Mal. Deshalb habe ich hinter Yufeis Rücken (sie würde so einem haarsträubenden Vorhaben nie zustimmen) Professor Egan gebeten, mir ein Augenpaar zu transplantieren.

Endlich konnte ich mich selbst und auch Yufei sehen. Ihr kurzes schwarzes Haar schimmerte im Licht wie weiche Seide, und ihre blasse Haut war so schön wie das feinste Porzellan der Zhuming. Ihre ebenholzfarbenen Augen waren blutunterlaufen vor Traurigkeit und Müdigkeit, und über ihre Wangen kullerten unaufhörlich Tränen.

Sie sah meine neuen Augen an und sagte: „Dan Shu, weißt du, was passieren wird?“

Ich weiß. Natürlich weiß ich das. Mein Körper wird diese Augen nach und nach unter unvorstellbaren Schmerzen abstoßen. In der Vergangenheit wurden Menschen aufgrund solcher Qualen sogar von Mara befallen.

Dann werde ich in die Dunkelheit zurückkehren und all das wieder verlieren, was ich kurzzeitig gewonnen habe.

Ich sagte zu Yufei: „Lass uns gemeinsam zu den Aussichtspunkten gehen, von denen du mir erzählt hast.“

Zehn Tage später standen wir Schulter an Schulter und betrachteten die künstliche Sonne, die allmählich auf der anderen Seite des falschen Himmels der Höhle versank. Die Abwehrreaktion meines Körpers wurde immer stärker, aber mit ihr an meiner Seite kam es mir nicht so schlimm vor.

Die Abenddämmerung färbte den Himmel am Waldrand flammend rot.

In jener Nacht, als ich in einer Lache meines eigenen Blutes lag und vor Schmerzen schrie, kehrte ich erneut in die Dunkelheit zurück.