Perun, der Gott von Donner und Blitz, hat den höchsten Rang im Pantheon inne. Er trägt einen Bart, der wie aus Bronze gegossen scheint, und führt Schild und Axt, die er gegen Sünder und böse Geister richtet. Seine Axt schleudert er seinen Feinden entgegen und lässt Blitze herabregnen, bevor sie in seine Hand zurückkehrt. Er steht auf seinem Streitwagen und vernichtet mit einem Regen aus flammenden Pfeilen die Dämonen, die im Himmel ihr Unwesen treiben. Dies ist der Ursprung dessen, was die Welt später Donner und Blitz nannte.
Veles, der Erbfeind Peruns, war früher selbst Gott des Krieges, aber wacht nun über Land, Wasser, Wald und Hades. Veles’ Gestalt ist halb die eines Menschen, halb die einer Schlange. Seinen Kopf ziert ein Satz großer Stierhörner, seinen Rücken ein dickes Fell. Er hütet die Rinder im Land des Todes, während er über Reichtum, Lohn, Musik und die Nacht herrscht. Er ist äußerst listig und zudem magisch begabt.
Der erzürnte Perun verfolgt Veles über die Erde und schert sich dabei nicht, wohinter sich sein Feind in verwandelter Gestalt versteckt. Alle Hindernisse werden gleichermaßen zerschlagen, und auch Menschen bilden keine Ausnahme. Der trickreiche Veles klettert aus dem feuchten Untergrund hervor, um Peruns Vieh, Weib und Kinder zu stehlen.
In der letzten Nacht des Februars kam Peruns zehnter Sohn Jarilo zur Welt. Noch in derselben Nacht wurde er ins Land des Todes verschleppt, wo Veles ihn aufzog. Das Land des Todes ist eine üppige Prärie im ewigen Frühling, jenseits der See. Dort hilft Jarilo seinem Ziehvater beim Hüten der Rinder, und jeden Winter ziehen Vögel in jenes Land.
Jarilo missfiel es, sein Leben im Untergrund zu verbringen. Er ist der Gott der Jugend und des Lebens, und ihm wohnen die Mächte der Vermehrung und des Pflanzenwuchses inne. Als der Winter zu Ende ging, kehrte Jarilo auf die Erde zurück. Dort setzte er seine gesamte Kraft als Gott des Frühlings und des Krieges ein, um die Kälte und die Dunkelheit zu vertreiben. Es war eine schwere Aufgabe, doch sie war nötig, um der Welt den Frühling zu bringen.
Die erste, die auf Jarilo aufmerksam wurde, war Morana, die Göttin der Natur und des Todes. Auch sie entstammte dem Geblüt Peruns und war somit Jarilos Schwester. Die beiden verliebten sich rasch und feierten im Sommer ihre Hochzeit. Die heilige Vereinigung von Jarilo und Morana symbolisiert ein Versprechen von Fruchtbarkeit und üppigem Wachstum. Außerdem bedeutete sie auch, dass Perun und Veles bis auf Weiteres Frieden schließen mussten, und dass die Spätsommerernte reich ausfallen würde.
Allerdings war Jarilo kein treuer Gatte. Seine Untreue trieb Morana dazu, ihn aus Rache zu ermorden und aus seinem Leichnam ein neues Heim zu errichten. Ohne ihren Gemahl verkam Morana langsam zu einer verbitterten alten Hexe. Die gefährliche, furchteinflößende Göttin des Todes brachte einen bitteren Winter. Am Ende des Jahres verstarb Morana und wurde als Vesna wiedergeboren. Zur gleichen Zeit kehrte auch Jarilo zum Leben zurück, und die Geschichte begann von neuem.
Dieser endlose Kreislauf von Leben und Tod wiederholte sich immer und immer wieder, für eine lange, lange Zeit. Der treulose Jarilo starb nach der herbstlichen Ernte, und die einsame Morana fand am Ende des Jahres auch das ihre. Die zwei Götter wurden wiedergeboren und verliebten sich, und jedes Jahr garantierten sie eine reiche Ernte. Doch eines Jahres, nachdem Morana ihren Gatten wie gewohnt getötet hatte, war ihr neues Haus zu schwach und brach zusammen. Ohne Unterkunft dem kalten Winter ausgesetzt war Moranas Zorn nicht mehr zu zügeln, und sie weigerte sich, ihr Schicksal zu akzeptieren. Nie wieder wollte sie sich wie jedes Jahr mit Jarilo versöhnen. Als Göttin der Natur und des Todes belegte sie sich selbst mit einem grausamen Fluch – sollte sie erneut sterben, würde sie nicht mehr als Vesna, der Göttin der Jugend und des Frühlings, wiedergeboren werden.
Der Fluch war erfolgreich. Diesmal verwandelte sich Morana zwar in ihrer Einsamkeit in eine gefährliche Hexe, aber sie starb nicht am Ende des Jahres. Kälte und Dunkelheit wüteten jetzt noch unbändiger als zuvor, selbst bis ins folgende Jahr hinein. Als Jarilo schließlich an diesem trostlosen Ort neu geboren wurde, fand Morana endlich den Tod, und diesmal blieb ihr die Wiedergeburt verwehrt. Angesichts des erbarmungslosen Winters wurde Jarilo klar, dass er einen Fehler begangen hatte. Dieses Jahr würde der Frühling nicht kommen, und allein konnte Jarilo den kalten Nächten nicht trotzen.
In seiner Verzweiflung fasste Jarilo den Entschluss, seinen Vater aufzusuchen – Perun, den Häuptling der Götter – um ihn um Buße und Vergebung zu bitten. Perun, der die Geschichte der beiden gehört hatte, zeigte Mitleid für Morana, konnte ihren Fluch aber nicht akzeptieren. Ohne den Frühling würde die Welt langsam in den kalten Winternächten verenden. Der weise Perun schalt Jarilo für seine Sünde der Arroganz und sprach eine Prophezeiung aus: Moranas Zorn könne nur besänftigt werden, wenn Jarilo erneut vermochte, ihr seine ewige Liebe und Treue zu schwören.
Der stolze Jarilo verfiel in eine tiefe Depression, und der kalte Sturm tobte weiter, bis in die herbstliche Erntezeit. Am Ende der Geschichte ist der reumütige Jarilo bereit, auf seine Wiedergeburt zu verzichten, und schwört seiner verstorbenen Geliebten die ewig währende Treue. So ging Peruns Prophezeiung in Erfüllung – Jarilos Reue und Sehnsucht brachten einen warmen, versöhnlichen Frühling hervor, der das Land einhüllte und die Menschen beschützte, auf das sie auch in dieser schneebedeckten Welt ein friedliches, glückliches Leben führen konnten.