Archivum Honkai: Star Rail

(Teil 2)

10. November

Laut Statistiken sind die Wolkenritter im Ruhestand am häufigsten von Mara befallen. Ich hatte Glück: Ich habe den dritten Krieg der Wesen des Überflusses unbeschadet überstanden und bin schon so weit gekommen. Ich kriege sogar eine Pension und verbringe die Zeit bis zu meinem Tod mit Gelegenheitsjobs für die Verwaltungskommission. Wenn ich mich zusammenreiße, sollten mich diese Einkünfte wahrscheinlich bis ins nächste Bernsteinzeitalter ernähren können.

Die Trottel in der Kanzlei denken immer, ich sei so locker, nur weil harte Arbeit bei mir so leicht aussieht. Sie nennen mich scherzhaft Dahao, den Unsterblichen. Sie wetten sogar darauf, wann ich von den Zehn Fürsten abgeholt werde.

Es ist völlig egal, ob es langlebige oder kurzlebige Spezies sind, die Jugend von heute hat keine Ahnung von Dingen wie dem „Lebensende“. Ich würde alles tun, um die Gesichter dieser Trottel zu sehen, wenn ein Leichenbestatter der Zehn Fürsten vor ihrer Nase steht. Es ist wirklich ein Jammer, dass ich ihnen in dieser Hinsicht weit voraus sein werde.

Die Zehn-Fürsten-Kommission ... Ich weiß, dass jeder Xianzhouer am Ende von ihnen abgeholt wird, aber ich habe nie ganz verstanden, wie sie das machen.

Nach einer alten Legende der Luofu liest die Zehn-Fürsten-Kommission ein Buch über dein Leben und nimmt die Leute mit in die Unterwelt, um die Sünden und Verdienste aufzuzählen. Aber diese Richter haben keine Ahnung, wer gut und wer böse ist, selbst wenn die Antwort ihnen ins Gesicht springen würde ...

Auch wenn das alles ziemlich überzeugend klingt, bleiben bei genauerem Nachdenken doch eine Menge Fragen offen:

Wo genau ist diese Unterwelt auf der Xianzhou?
Woher wissen sie, wann jemanden Mara befällt?
Wie können sie jede Kleinigkeit aus dem Leben wissen und einen dann wie ein Lyzeum mit guten oder schlechten Noten bewerten?

Ha, am Ende sind Legenden genau das: Legenden. Sie sind nur gut, um Kinder zu täuschen!


12. November

Aber eigentlich habe ich den Geisterfergen der Zehn Fürsten schon mal gesehen, sogar schon sehr oft.

Das erste Mal war, als ich als Laufbursche bei der Verwaltungskommission anfing. Ich sah eine Gruppe von Kindern durch die Straßen des Heiligtums der Drifter laufen, die ihre Laternen hielten. Es war Nacht, und der Mond und das Sternenlicht waren schwach. Alle waren zu Hause, und keine Menschenseele war zu sehen: Nur diese Kinder, die schweigend herumliefen, als wären sie direkt aus der Dunkelheit selbst gekommen, nur mit ihren Lampen an der Seite. Ich kannte den Mann, der hinter ihnen ging, denn er war mein Vater.

Als mein Vater 646 wurde, fing er plötzlich an, lauter Unsinn zu erzählen. Er fragte, warum ich seine Suppenschüssel umgeworfen hätte; warum ich seine Kleidung verbrannt hätte; warum ich seinen Jade-Abakus wie einen Fußball herumgekickt hätte ... Ich dachte immer, das waren nur frecher Jugendstreiche von mir, aber heute kann ich mich an nichts mehr davon erinnern. In den nächsten Tagen aß und trank er nichts mehr und reagierte auch nicht mehr auf Menschen - er saß einfach da wie eine lebende Leiche, wie Spinnweben, die in einer muffigen Ecke Staub ansetzen: Voller Staub, aber ohne Leben.

Ich stellte fest, dass er die fünf Anzeichen für den Verfall aufwies und kurz davor war, an Mara zu erkranken. Gemäß den Regeln lud ich einen Heiler der Alchemiekommission zu einer ambulanten Untersuchung ein, um zu sehen, ob er überhaupt eine Chance auf Heilung hatte. Der Heiler verschrieb mir ein paar verschiedene Medikamente, sah mir dann direkt in die Augen und warnte mich, dass ich vorbereitet sein sollte.

„Bereit für was?“, fragte ich den Heiler. Der Heiler antwortete in routiniertem Tonfall: „Bereite dich darauf vor, dass dein Vater abgeholt wird.“

In diesem Moment erkannte ich, dass die Zeit für meinen Vater gekommen war. Mir ist klar, dass jeder auf der Xianzhou früher oder später mit diesem Tag konfrontiert wird, aber jetzt, wo es meinen eigenen Vater betrifft ... kommt alles so plötzlich.

Ich nahm das Rezept vom Tisch und las es wieder und wieder, wie ein Meister, der die Hausaufgaben eines Schülers studiert. Plötzlich griff die Heilerin nach einer Ecke des Rezepts, als wolle sie es zurücknehmen. Ich verstand ihre stillschweigende Absicht: Es gibt kein medizinisches Heilmittel gegen den Mara-Schlag. Aber ich erinnerte mich, wie ich das Rezept fest umklammerte und immer wieder murmelte: „Versuchen Sie es einfach noch einmal mit diesem Medikament. Nur noch ein Mal. Nur noch ein einziges Mal.“ Angesichts meiner Hartnäckigkeit zog sie ihre Hand zurück und war mit der Zubereitung des Mittels beschäftigt.

Danach hat mein Vater nie wieder ein Wort zu mir gesagt, bis er mit diesen Kindern auf mich zukam. Vielleicht war es Einbildung, aber er kam mir jünger vor. Die Vorstellung, dass ein Xianzhouer jünger werden könnte, ist lächerlich. Unser Aussehen verändert sich nicht mehr, sobald wir das Erwachsenenalter erreicht haben - aber unser Auftreten schon. Mein Vater ging zügig, mit einem Ausdruck von Freiheit. Sein verstaubter, lebloser Blick war verschwunden.

Ich öffnete den Mund und wollte nach meinem Vater rufen, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Doch noch bevor ich sie herausbringen konnte, sprach er leise und deutlich zu mir: „Schätze es.“ Es kam mir vor, als hätte er sich von seinem Mara-Schock erholt. Aber ich wusste, dass das nur Wunschdenken war. Die beiden Kinder bliesen ihre Lampen aus, und im nächsten Augenblick wurde es dunkel - als wären mein Vater und die Kinder einfach verschwunden.

Ich vergaß meine Nachtschicht und stand einfach allein in der Dunkelheit. Kurz darauf erinnerte ich mich plötzlich an das Rezept, das mir der Heiler gegeben hatte. Ich hatte es in meiner Brusttasche aufbewahrt, aber als ich es suchte, war es nicht mehr da.